Meine Predigt vom Volkstrauertag 2007, gehalten am 18. November in der Klosterkirche Vechta.
PREDIGT
Liebe Gemeinde, ausnahmsweise haben Sie alle unseren Predigttext direkt vor Augen – er ist in der Liederzeitung mit abgedruckt Da steht, wie der Apostel Paulus an die Christen in Philippi schreibt:
3 Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst,
4 und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. (Phil 2,3-4)
In Demut achte einer den andern höher als sich selbst – diesem Teilvers ist das Thema unseres Gottesdienstes entnommen: andere achten!
Das klingt – jedenfalls in meinen Ohren – ganz leicht, ganz einfach: andere achten – na klar, das ist doch selbstverständlich, das ist doch normal … andere achten – natürlich tue ich das!
Gestern hieß es in Vechta wieder – wie schon am 1. Mai diesen Jahres: Bunt statt braun! Viele sind aufgestanden gestern gegen die Kundgebung der NPD … sicherlich auch, weil die Neonazis eben nicht „andere achten“, sondern die, die anders sind als sie, am besten gleich ver-achten!
Andere achten – also doch nicht so normal, so natürlich, so selbstverständlich?
Noch etwas von gestern – aus unserer Kirchengemeinde: mit 20 Konfirmanden und einigen Ehrenamtlichen waren wir gestern unterwegs – nach Hamburg … und wie in jedem Jahr, führte uns unsere Fahrt nicht in die City oder auf die Reeperbahn, sondern an 2 Gedenkstätten in Hamburg für die Opfer der Nationalsozialismus. Wir besuchten eine ehemalige Schule, in der nur wenige Tage vor Kriegsende 20 jüdische Kinder, an denen zuvor medizinische Experimente vorgenommen worden waren, nebst ihren Pflegern ermordet wurden … um alle lebenden Beweise für dieses menschen-ver-achtende Handeln vor dem Eintreffen der Engländer zu vernichten.
20 jüdische Kinder, denen gesagt wurde: Ihr werdet jetzt geimpft und dann fahrt ihr nach Hause – und stattdessen bekamen sie Morphium gespritzt, um sie schläfrig zu machen und wurden erhängt … und weil die Kinder für diese Tötungsmethode des Erhängens viel zu leicht waren, hängten sich ihre Henker an die kleinen Kinderkörper, damit sich die Schlingen überhaupt zuzogen …. andere achten?
Im ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme erfuhren die Konfirmanden, wie die Lagerinsassen konsequent nicht ge-achtet wurden … schon bei ihrer Ankunft im Lager wurden den Häftlingen aus ganz Europa ihre Würde genommen: all ihre Körperhaare und Kopfhaare wurden abrasiert … sie bekamen einheitliche Häftlingskleidung versehen mit einem farbigen Abzeichen … einem Winkel:
grün bekamen die rechtskräftig verurteilten Schwerverbrecher,
rot die politischen Gefangenen,
braun die Sinti und Roma, die Zigeuner,
schwarz die sogenannten Asozialen
rosa die Homosexuellen …
dazu kam das Nationalitäten-Kennzeichen,
etwa ein P für Polen
oder ein B für Belgien,
und dann die Häftlingsnummer …
So verloren die Häftlinge schon bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager ihren Namen, ihre Würde, ihre Identität … ihre Achtung!
Andere miss-achten, andere ver-achten … so funktionierte dieses Konzentrationslager!
Die SS, die dieses Lager leitete, verachtete alle Lagerinsassen … die mit dem grünen Winkel, die rechtskräftig verurteilten Schwerverbrecher, standen in der Lager-Rangordnung ganz oben, über denen mit dem roten Winkel, den Politischen … und die mit dem schwarzen Winkel, die Asozialen … das waren zum Beispiel die Obdachlosen, die Behinderten, die lesbischen Frauen und die mit dem rosa Winkel, die Homosexuellen, die standen ganz unten in der Lager-Hierarchie …
Allen wurde die Würde genommen, die Achtung, der Respekt vor dem Individuum … die Achtung als Mensch!
Den anderen achten – liebe Gemeinde, sicher haben Sie gemerkt, dass eben nicht normal ist, natürlich … oder gar selbstverständlich! Jedem Mitmenschen Menschenwürde, Achtung zu zuerkennen … das fällt auch Christenmenschen manchmal schwer! Andere so sein lassen, wie sie sind. Nicht andauernd verändern wollen. Sondern den Menschen, das Gegenüber, so annehmen, wie er, wie sie ist ist, wie Gott ihn oder sie geschaffen hat.
Warum fällt uns das manchmal nur so schwer?
Macht es Angst, Andere oder Anderes zu erleben, Fremdem ins Auge zu sehen? Achtung vor anderen haben ist eine notwendige Bedingung für das Gelingen von Prozessen des Friedens, der Gerechtigkeit und der Versöhnung. Wenn ich Andere und Anderes, mir Fremdes achte, dann schließt das jede Art von Rassismus und Extremismus grundlegend aus – auch daran sollten wir uns heute erinnern.
Wer einen anderen Menschen, egal welcher Religion, Konfession, Hautfarbe, Ethnie, Nationalität, Kultur oder auch nur Meinung nicht achtet, nur weil dieser anderer Religion, Konfession, Hautfarbe, Ethnie, Nationalität, Kultur oder Meinung ist, kann sich meines Erachtens nicht guten Gewissens Christin oder Christ nennen.
Andere achten heißt: sie so zu akzeptieren und zu lieben, wie Gott sie geschaffen hat. Und den Versuch machen, zu verstehen, was Gott mit dem Anderen und seiner Andersartigkeit der Welt sagen will. Also: Anderes ist keine Bedrohung. Anderes ist eine Bereicherung.
Paulus ermahnt und kritisiert die Haltung von Gemeindemitgliedern, die er als eigennützig, selbstsüchtig, ehrgeizig oder gar eitel, prahlerisch und machtgierig beschreibt. Da wollten wohl einige „Die Ersten sein“. Dagegen setzt Paulus die Aufforderung: Lasst Demut walten! Paulus fordert die Gemeindemitglieder zu Bescheidenheit, Selbstbescheidung, ja – Demut heraus. Niemand soll sich als etwas Besseres sehen, sondern sich zurücknehmen, wo es nötig ist, damit auch andere Beachtung finden und die Hilfe und Fürsorge erhalten, die ihnen zusteht.
Paulus fordert auf: Ändert den Blickwinkel! Nicht die eigenen Interessen oder der eigene Vorteil sollen das Tun und Denken bestimmen. Ja, Paulus erteilt dem Blick auf den eigenen Vorteil sogar eine sehr deutliche Absage.
Denn in dem Abschnitt, der sich an den heute gehörten Abschnitt anschließt, heißt es: „Jesus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“
Im Geist dieser Worte demütig zu sein bedeutet: Gott Gott sein zu lassen und nicht selber Gott spielen zu wollen. Sich nicht zu erheben über andere. Andere zu achten! Sich in diesem Sinne füreinander zurücknehmen können.
Und das ist kein frommes „Sich selbst klein machen“, sondern im Gegenteil: Das ist menschliche Größe, die dem Vertrauen in Gott selbst entspringt. Dabei hat unsere Achtung nicht jedem Denken und Tun zu gelten. Es ist nicht unsere Aufgabe, allem mit absoluter Toleranz zu begegnen. Das hat Jesus auch nicht getan. Einer intoleranten Haltung kann ich als toleranter Mensch nur mit Intoleranz begegnen.
Darum in Vechta: Bunt statt braun! Gemeinsam gegen die Neonazis!
Aber dennoch gilt, anderen Menschen mit Achtung zu begegnen, egal, was sie denken, glauben oder tun. Wir sollten nicht urteilen, bevor wir nachgefragt haben, bevor wir genau hingehört haben, bevor wir genug vom anderen verstehen.
Sebastian Krumbiegel, der Leadsänger der Popgruppe Die Prinzen, ist der diesjährige Schirmherr der Ökumenischen FriedensDekade. Sebastian Krumbiegel wurde im Juni 2003 im Leipziger Stadtpark selber von zwei Neonazis zusammengeschlagen. Nur die Tatsache, dass ihm jemand zu Hilfe kam, hat Schlimmeres verhindert.
Trotz dieser Erfahrung rechtsextremer Brutalität hat er in einem Interview auch gegenüber den Rechtsextremisten, den Neo-Nazis, zu einer solche Haltung der Achtung ermutigt, wenn er sagt: „Das rechtsextremistische Gedankengut ist da, die Leute sind teilweise so drauf, und wie können wir die Leute verändern? Nur, indem wir versuchen, die Hülle, mit der sie sich selbst umgeben, aufzuknacken und da rein zu gucken und an den weichen Kern zu kommen und da ein bisschen zu streicheln und zu sagen: ‚Hey überleg doch mal, ob das, was du so denkst, wirklich so richtig ist‘.
Andere achten – das ist für mich die Grundvoraussetzung, miteinander ins Gespräch zu kommen. … Kein Mensch wird mit der Intention geboren, Böses zu tun.
Jeder Mensch wird in irgendeiner Weise dazu gemacht und durch seine Umwelt dazu geprägt und man kann nur als einer, der in dieser Umwelt lebt, den Menschen ändern, indem man mit ihm redet und man kann nur mit ihm reden, indem man ihn achtet.“
Andere achten – in Demut. Wie kann das aussehen?
Dazu zum Schluss eine jüdische Geschichte:
Ein weiser Rabbi stellte seinen Schülern einmal die folgende Frage: „Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“ Einer der Schüler antwortete: „Vielleicht ist es der Moment, in dem man einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“
Der Rabbi schüttelt den Kopf. „Oder vielleicht dann, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“
Der Rabbi schüttelt wieder den Kopf. „Aber wann ist es dann?“
Der Rabbi antwortete: „Es ist dann, wenn Ihr in das Gesicht eines beliebigen Menschen schaut und dort Eure Schwester oder Euren Bruder erkennt. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
Andere achten – in Demut!
„Demut ist der Mut… mit Gott zu rechnen“
Demut gegenüber unseren Mitmenschen:
Christliche Demut – richtig verstanden – steht für gelassene Bescheidenheit, die auch anderen etwas zugesteht. Sprachgeschichtlich kommt das Wort Demut wohl aus einer Kombination von „dienen und Mut“.
Somit ist jemand mutig, der sich einsetzt für andere, auch wenn es keinen Lohn bringt. Demütig sein heißt, menschlich werden und menschlich handeln. Demut ist so das Gegenteil von Neid und einer „Ich-Zuerst-Mentalität“.
Im Prinzip versuchen wir das Konzept von Demut vor Gott auch in unseren Gottesdiensten zu leben. Im Gottesdienst und am Abendmahlstisch sind alle gleich. Da steht der Chefarzt neben der alleinerziehenden Mutter, die Gesunde neben dem Behinderten, der Alte neben der Jungen. Das ist gelebte Demut.
Demütig sein gegenüber Gott:
Gott ist Gott.
Ich bin es – Gott sei Dank! – nicht.
Demütig zu sein, bedeutet anzuerkennen, dass ich auf Gott angewiesen bin – auf das Wort, das mir überliefert ist, auf die Gnade, die mir geschenkt wird, auf die Gaben des Lebens.
In Demut – andere achten!
Andere sehen – andere wahr-nehmen – andere achten!
Möge uns das gelingen … mit Gottes Hilfe. Amen.