Dorothee Sölle, Johannes 20 Vers 13

Manche von uns sind so verzweifelt
dass sie nichts sagen können
dass sie nicht klagen können
sie bleiben stumm
ihr leben lang
gott bitte hör ihre klage
wenn sie vor dem geleerten glas sitzen
sieh ihren schrei in den fahrigen gesten
gott hör du was sie nicht sagen

Manche von uns sind so verzweifelt
dass sie nicht weinen können
sie habens verlernt
sie bleiben trockenen auges
ihr leben lang
gott bitte sieh ihre traurigkeit
vergib ihnen ihre versteinerung
und sammle die ungeweinten tränen

Manche von uns sind so verzweifelt
dass sie noch nie einen engel gesehen haben
sie leben ohne dass jemand sie fragt
frau warum weinst du
sie glauben dir eine geschichte nur halb
und bleiben allein beim weinen
gott bitte schick einen engel
zu fragen warum weinst du
schicke eine von uns zu fragen warum
damit wir alle nicht allein bleiben
vor den gräbern
wo unsere hoffnungen verscharrt liegen
und lehr uns klagen
und lehr uns weinen
und zeig uns die engel
die schon am grab auf uns warten

(Dorothee Sölle, aus: Dorothee Sölle, Zivil und ungehorsam, Gedichte, © Wolfgang Fietkau Verlag 1990, S. 136)