Beruflich (ich bin Pfarrerin) ist der November schon lange Trauermonat für mich. Mit dem Volkstrauertag und dem Totensonntag. Und dem Gedenken an die Reichsprogromnacht am 9. November.

Besonders die Ausgestaltung des Totengedenkens der Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres ist mir immer eine Herzenssache. Die Namen werden genannt, die Toten werden erinnert und Gott vorgehalten. Bei Gott sind sie unvergessen – und sie bleiben es. Die Trauernden entzünden Lichter. Texte, Gebete und Predigt wollen berühren und trösten.

In diesem Jahr bin ich am Totensonntag in meinem Krankenhaus mit einem Gottesdienst präsent. Heute, am 22.11.2020. Sehr wahrscheinlich sind auch Trauernde unter den Patienten und Patientinnen, die am Fernseher mit dabei sind. Anders geht es ja grad nicht. Auch wenn bis 10 Patient*innen in die Kapelle kommen dürfen, es kommen schon immer nur selten welche, da die meisten viel zu krank sind. Bis Mitte März kamen auch Menschen von „draußen“ in die Krankenhauskapelle zum Gottesdienst, das ist seither untersagt. Die Küsterin und ich. Mehr sind wir jetzt nicht.

Ich spüre viel Trauer bei den Menschen. Trauer um liebe Menschen, die sie verloren haben. Trauer um das eigene Leben angesichts von schwerer Krankheit. Und Trauer um das Leben, so, wie es bisher war. Trauer um fehlende Nähe, reduzierte Kontakte, Mangel an Berührung und Zärtlichkeiten. Trauer angesichts dieses Zurückgeworfenseins auf sich selbst. Die zumeist älteren und sehr alten Kranken in meinem Hospital halten sich an die aktuellen Vorschriften. Seelsorge wird nur sparsam gewünscht. Trotz des offensichtlichen Mangels, trotz des erkennbaren Bedarfs. Aber die Angst siegt, die Angst ist stärker.

Sterbende begleiten, das wird noch nachgefragt, vor allem auch, den Familienangehörigen gut zur Seite stehen dabei. Der Verstorbenen der Klinik gedenken wir in zweimonatlichen Gedenkgottesdiensten für die Zugehörigen. Heute morgen geht es um die Trauer und Traurigkeit. Die Schwere des Novembers. Dieses Novembers besonders. Und doch möchte ich nur der Trauer, der Traurigkeit und den Tränen Raum geben. „Gib mir die Gabe der Tränen, Gott“ formulierte Dorothee Sölle es einmal sehr poetisch. „Gib mir die Gabe der Tränen!“

So viel Unbetrauertes ist unsern Leben. Verluste, Niederlagen, Erkrankungen, Abschiede, Tode. All das Schwere. Es wird Raum bekommen heute morgen in der Krankenhauskapelle. Kerzen werde ich entzünden, mit und für die Lebenden und die Toten beten, Trostworte aus der Bibel lesen, aus dem Buch der Offenbarung, Kapitel 21, Verse 1-7 BigS:

1 Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen.

Das Meer ist nicht mehr.

2 Die heilige Stadt Jerusalem, die neue,

sah ich aus dem Himmel herabsteigen,

von Gott bereitet wie eine Braut,

geschmückt für ihren Mann.

3 Ich hörte eine laute Stimme vom Thron:

„Da! die Behausung Gottes bei den Menschen.

Gott wird bei ihnen wohnen.

Sie werden Gottes Völker sein,

und Gott – Gott wird bei ihnen sein.

4 Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.

Der Tod wird nicht mehr sein.

Auch Trauer, Wehgeschrei und Schinderei wird nicht mehr sein.

Das Erste ist vergangen.“

5 Die Person, die auf dem Thron saß, sagte:

„Da! neu mache ich alles!“

und fügt hinzu: „Schreib! Ja, diese Worte sind verlässlich und wahr!“

6 Und sie sagte mir: „Es ist geschehen.

Ich bin das Alpha und das O, der Anfang und das Ende.

Ich werde den Dürstenden

aus der Quelle des Lebenswassers umsonst geben.

7 Die sich nicht unterkriegen lassen,

werden dies erben.

Ich werde ihnen Gott sein,

und sie werden mir Sohn und Tochter sein.“

Und dazu dann ungefähr so weitersprechen:

Gib mir die gabe der tränen gott“, sagt Dorothee Sölle in einem Gedicht, „wie kann ich reden, wenn ich vergessen habe, wie man weint“ (D. Sölle in: fliegen lernen, gedichte, Berlin 1979, S. 35). „Gib mir die gabe der tränen gott“. Das sagt mir: Tränen sind eine Gottesgabe. Eine Gottesgabe, die gut tut. Die auch Männer weinen können. Die auch Jesus geweint hat.

Als Kinder wussten wir noch: Tränen tun gut. Wir hofften, dass sie getrocknet werden, und wurden in unserer Hoffnung meist nicht enttäuscht. Tränen helfen gegen den Schmerz und gegen die Trauer. Wenn wir weinen, sehnen wir uns nach Trost und nach dem Heil: „Es wird alles wieder gut.“ Und das auch und gerade, weil wir als Erwachsene wissen: oft wird gar nichts gut. Zum Erwachsen werden gehört das Enttäuscht-werden, und auch, dass sich manchmal Unglück auf Unglück häuft und wir nicht mehr weiter wissen.

Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ (Ps 126, 5 Luther), sagt der Psalmbeter – und verlässt sich darauf, dass Gott dies Versprechen einlöst. Vielleicht nicht immer sofort. Jede Trauer ist anders. Jeder trauernde Mensch braucht etwas anderes. Bei jedem Menschen verläuft der Prozess anders. Und doch sehnen sich alle danach, getröstet zu werden, danach, dass jemand da ist, der oder die in den Arm nimmt und sagt: „Alles wird wieder gut. Komm, ich wische deine Tränen ab.“

Kein Vertrösten ist gemeint. Gott sieht nicht über unsere Tränen hinweg. Gott nimmt sie wahr und wischt sie ab. Diese Sehnsucht bestimmt die Vision des Johannes. Und es ist tröstlich, sich Gott so nah, so zärtlich vorzustellen: Wie eine Mutter, wie ein Vater nimmt Gott uns in den Arm, berührt zärtlich unser Gesicht und trocknet die Tränen. Gott hält die Tränen aus, bleibt bei uns in unserm Schmerz, und verspricht: „Alles wird anders, alles wird neu!“

Ja, Gott macht alles neu. Darum hoffe ich darauf, dass Gott den Tod und die todbringenden Mächte besiegt. Was mich dabei antreibt: Die Vision einer neuen Welt, in der Gott bei uns wohnen wird, in der keine Schinderei, kein Wehgeschrei, kein Tod und keine Trauer mehr sein wird, weil Gott alles neu macht.

Das Abendmahl werde ich auch feiern. Und nach dem Gottesdienst hoffentlich in ein paar Zimmer bringen, mit mutigen Patient*innen, die sich dafür angemeldet haben. Als Wegzehrung. Und Stärkung. Als Ermutigung. Als Zeichen: Gott mach alles neu.

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Mir persönlich ist der November auch ein sehr besonderer Monat. Meine Lieblings-Oma, mein Lieblings-Vater und mein Lieblings-Onkel sind im November gestorben. Drei Menschen, die ich nach wie vor sehr vermisse. Die ich so gerne noch so vieles fragen würde. Über Zeiten in meinem Leben, in denen sie meine Zeugen und Zeuginnen waren, weil sie sich erinnern und ich mich nicht, weil ich noch viel zu klein war, um mich erinnern zu können.

Letztes Jahr im November habe ich meinen Toten Briefe geschrieben. Da habe ich meine vielen nicht mehr zu beantwortenden Fragen wenigstens mal gestellt. Nach meiner beidseitigen Hüftgelenk-Implantat- OP tat mir das in der Reha sehr gut. An alle habe ich geschrieben, auch an meine andere Oma und an meinen Opa. Und an meine Mutter. Die sich aber nicht mehr erinnert. Das hat gut getan. Das Schreiben der Briefe an meine Toten schenkte mir die Gabe der Tränen. Und so habe ich Frieden geschlossen mit meinem schweren Start ins Leben. Der sich ja nicht mehr ändern lässt.

Heute nachmittag werde ich meine Briefe an meine geliebten Toten wieder lesen. Und spüren und merken, wo und wie ich weiter gekommen bin. Und ein bisschen traurig sein um mich selbst. Und doch auch ihre Nähe, ihr Bei-mir- und Um-mich-sein fühlen. Und ein starkes Traurigsein wird mich ergreifen, weil sie ja doch nicht mehr da sind und mir doch – immer noch – so fehlen. Besonders in diesen seltsamen Zeiten. Die so voller Angst sind. Vor dem Tod. Vor dem Leben. Vor dem vollen Leben angesichts des Todes. Meine Toten könnten mir sicher viel sagen und erzählen, und vor allem könnten sie mich in den Arm nehmen und sagen: „Alles wird wieder gut. Komm, ich wische deine Tränen ab.“ Nähe macht lebendig.

https://totenhemd.wordpress.com/2020/10/27/november-blogaktion-abschied-nehmen-meine-und-unsere-tradierten-und-spontanen-rituale/

Mein Beitrag im Rahmen der November-Blogaktion: Abschied nehmen: Meine und unsere tradierten und spontanen Rituale des totenhemd.blog