Mein Beitrag zur März-2020-Blogaktion des Totenhemd-Blog „Wo spaziert der Tod durch euer Bild?“ Mir kam sofort der Gedanke, einmal Revue passieren zu lassen: „Wo spaziert der Tod durch mein Bild!“ Los geht’s!
Zack, und da springt er schon, der Tod. Springt munter durch mein Leben. Immer wieder. Mal näher, oft ferner, immer irgendwie auf dem Sprung!
1960, 3 Jahre war ich da alt. Meine Mutter pflegt eine 63jährige, schwer krebskranke Großtante einige Monate – bis zu ihrem Tod. Der Zwilling meines Opas. Plötzlich war Tante Frieda dann tot, nicht mehr da. Zack – war der Tod ins Haus gesprungen und hatte sie mitgenommen. Keine Erinnerung an die Beerdigung. Nur die an eine ruhige Kranke auf dem Sofa und später im Bett. Und an eine angestrengte Mutter.
John F. Kennedys Ermordung 1962. Bei meiner liebsten Freundin Gabi hörten wir es im Radio. Zack – der ferne Tod in Dallas/Texas. Einige Schüsse und tot. Gabi heulte sofort los. So traurig konnte ich nicht sein, ich kannte ihn ja vorher gar nicht. Hatte noch nie von ihm gehört.
Ein paar Jahre später, ich war inzwischen fast 6 geworden. Zack – sprang der Tod ganz nah, ganz dicht in mein Leben. Mein zweiter Bruder wurde geboren, zu früh, schon blau angelaufen. Schnell kam die Diagnose: eine unheilbare Bluterkrankheit, ganz selten. Wir wissen nicht, wie sie verläuft. Er hat nur ein schwaches Immunsystem. Vielleicht wird er 1 Jahr alt, vielleicht 2!?
Ich hatte einen kleinen Bruder bekommen, aber irgendwie dann doch nicht. Er wurde älter. Kam zur Schule, wider Erwarten. „Die Pubertät übersteht der nie!“ Der Tod – zack – war er da, bei uns, ließ uns nicht mehr allein. Immer saß der Tod mit am Tisch. „Seid nett zu eurem Bruder. Vielleicht stirbt er bald.“
Quelle: pixabay
Unser Pfarrhaus ab 1964 stand auf dem Friedhof. Ja, wirklich. Nach vorn die Straße. Und rechts und links neben und hinter dem Haus wohnten die Toten. Immerzu war Beerdigung. An manchen Tagen sogar mehrmals.
Gerne stellte ich mich ans Fenster meines Zimmers im 1. Stock, wenn ich von dort aus „mitbeerdigen“ konnte. Zack, zack, zack … bald kannte ich das Ritual in- und auswendig.
Der Chef der Gärtnerei am Friedhof stellte mich ein. Für 50 Pfennig dekorierte ich aufgebahrte Tote in der Leichenhalle mit Röschen. Mich störte nur, dass es dort immer so kalt war.
Und ich spürte und begriff: die Toten tun mir nichts. Es sind nur Körper. Ihre Seelen sind längst woanders, wohl bei Gott. Wenn ich mir das auch nicht so richtig genau vorstellen konnte, so war mir doch klar: die Toten sind bei Gott gut aufgehoben.
Quelle: pixabay
Ich erinnere die Brot-für-die Welt-Plakate: hungernde Kinder in Indien. Und 1970 dann die dramatischen Bilder der Biafra-Kinder, mit ihren aufgeblähten Hungerbäuchen, den dünnen Ärmchen und Beinchen und den riesigen Augen! Zack, zack, zack – da wurde heftig gestorben und die Welt sah zu. Was konnte frau/man da schon machen?
Meine Oma starb. Papas Mutter. Zack, war sie tot. Lungenentzündung in den frühem 60ern. Meine Mutter beschwor mich, nicht hineinzugehen beim Bestatter in den Raum, wo sie aufgebahrt lag, damit wir Abschied von ihr nehmen konnten. „Behalte sie als Lebende in Erinnerung“, riet sie mir inständig. Sie wusste nicht, wie viele Tote ich schon gesehen hatte. Eben noch hatte Oma mit mir Konfirmation gefeiert, zack, war sie tot, gestorben. Bleich und viel schöner als vorher lag sie da. Ich sagte ihr Dank für die vielen Katzen-Postkarten, die sie mir Monat für Monat geschickt hatte, und „Tschüß, Oma!“
Tschernobyl, April 1986. Die tödliche Wolke, zack – war sie auch bei uns. Unheimlich, fremd, anonym. Unsichtbare winzigste strahlende Partikel. Mein Sternenkind im Juni. Zack. Sicher besser so. Vermutlich war es geschädigt, das tröstete mich sehr.
Quelle: pixabay
Meine ersten eigenen Beerdigungen als junge Vikarin. Tiefe berührende Erfahrungen. Nun eigenständig und wirksam das Ritual vollziehen. Spüren: ich kann Menschen trösten. Ihnen den Abschied ein klein wenig leichter machen. Gute Worte finden für sie. Bilder, Symbole, die tragen und stützen und zum Leben helfen. Immer wieder, zack, spaziert der Tod durch mein (Arbeits-)Leben.
Opa (Papas Vater) starb, als ich mit dem zweiten Kind schwanger war. 90 1/2 ist er geworden. 1988 war das, im August, er war schon länger an Krebs erkrankt. Am Tag nach meinem Geburtstag, zack, ist er gestorben. Zack! Ich bin mir sicher: seine Todesstunde hat er geschoben. Das lehrte mich: Sterbende können bis zuletzt sehr aktive Lebende mit Mut und Kraft und Willen sein. Danke, Opa.
Im Gemeindepfarramt angekommen. 1992. Und recht schnell begriffen, wie wichtig Bestattungen sind, wie wichtig, dass sie „schön“ sind. Irgendwann auch gespürt, was das für die Trauernden bedeutet – die „schöne“ Beerdigung, wie sinnstiftend und tröstlich sie ist. Ja, immer wieder, zack, der Anruf vom Bestattungshaus: „Frau Pastorin, wir haben da was für Sie. Wann können Sie?“
Alles ist im Laufe der Jahre dabei: der ersehnte Tod im hohen Alter oder nach schwerer Krankheit, verunfallte Menschen, der kleine weiße Sarg, Sternenkinder, Suizid auch, und Tod nach fahrlässiger Tötung oder gar Mord. Kleine und große Abschiede. Mit Gesang und auch ohne.
Mit viel Liebe. Eine Herzenssache. So wichtig für die Menschen, die grade erleben: zack – der Tod nimmt mir einen lieben Menschen.
Quelle: pixabay
Und leben und erfahren: der kleine Bruder ist keinen frühen Tod gestorben. Und doch, zack, denke ich immer an den Tod, wenn ich an meinen Bruder denke.
Und die andere Oma ist 97 1/2, auf den Tag genau, als – zack – der Tod kommt und sie, endlich, holt. Sie fühlte sich schon „vergessen“. 48 Jahre alt war sie gewesen, als ihr Mann viel zu früh starb. 49 1/2 Jahre lang war sie Witwe. Die längste Zeit ihres Lebens eine Witwe. Eine Familienstand, durch den Tod definiert. Regelmäßige Friedhofsgängerin war sie und eine gute Grabpflegerin. Als Kind war ich oft dabei. Gerne. Zupfte und jätete und pflanzte neu.
Vor gut 10 Jahren brach mein „Dach“ zur Hälfte ein, als – zack – der Tod wieder mal durchs Bild spazierte und mein Vater 80jährig verstarb. Gerade hatte er noch auf unserer Silberhochzeit getanzt, als sein Herz schlapp machte. „Sie wissen doch sicher, dass Ihr Vater schwer herzkrank war?“ sagten die Ärzte. Nein, das wussten wir nicht. Und er auch nicht. Er sah nicht so aus – wie herzkrank. Drahtig wirkte er, lebendig. Ein EKG wurde nie gemacht. Herzinfarkt, zack – nach Stent-OP und künstlichem Koma innerhalb einer Woche aus dem Leben in den Tod. Schnelles Sterben.
Oft spreche ich mit ihm. Und auch mit Oma und mit Opa. Und mit vielen andern.
Und mit denen, die noch da sind. Die mich begleiten im Leben.
Spreche gute Worte für sie.
Fürbitte im Herzen.
ZACK! Der Tod ! Springt ! Lärmt ! Singt ! Tanzt !
Quelle: pixabay
Springt – zack – ins Leben von Menschen. Die flüchten. Die ein besseres Leben erträumen. Die ertrinken. Getötet werden. Verhungern.
Oder die „anders“ sind. Opfer des Hasses werden. Des Terrors. Des Krieges.
Die fernen Toten lassen mich nicht los. Berühren mich. Bestürzen mich. Bedrängen mich. Ängstigen mich. Beunruhigen mich.
Lehren mich zu kämpfen, zu leben, zu sterben.
In Liebe.
ZACK!