SIMEON
Simeon ist über 70. Er schaut ab 7 Uhr morgens aus seinem kleinen Fenster. Er kann nicht lange schlafen, eigentlich gar nicht mehr. Wenn es nicht so kalt draußen ist, legt er ein Kissen auf die Fensterbank, damit seine Ellenbogen nicht verkratzen.
Die Müllmänner von drüben grölen, wenn sie ihn sehen und grüßen um halb 8.
Schulkinder schnattern den Gehweg herunter. Eins zeigt mit dem Finger nach oben – einen Moment lang blicken alle. – Kichern, schnattern und wackeln weiter, etwas lauter jetzt.
Kurz vor 9 klingelt das Telefon – verwählt.
Dann bringt Frau Schneider-Lützgendorf sein Brötchen und seine Marmelade. Orange mit Ingwer. Seit 11 Jahren. Für die muss sie länger fahren, das gibt’s nicht gegenüber. Aber sie tut’s gern. Der Alte ist freundlich, und er hat ein Gesicht wie einer, der herumgekommen ist in der Welt. Falten vom Sturm und in den Augen der Abendsegen, der sich übers Land senkt.
Gehen kann er nicht mehr allein, höchstens mal mit dem Gehwägelchen 10 Minuten vorm Haus – wenn jemand hilft.
An Deck war das anders. Da ist er die Masten hoch und konnte oben schweben, während die Gischt übers Schiff ging.
Mittags klingelt es an der Tür. Wohl auch verwählt.
Simeon beugt sich aus dem Fenster. Er hat niemanden kommen sehen. Im Eingang steht aber eine junge Frau. Sie klingelt bei ihm. Er schleicht zur Tür, drückt den Summer, sie steigt die Treppe hoch, steht da. Dunkle Augen hat sie – wie er.
Als sie nach 6 Stunden in die Abenddämmerung geht, weiß er alles.
Nach 24 Jahren weiß er, dass seine Tochter lebt.
Sie war gegangen mit 14. Mit irgendeinem Typen. Vater war wie immer zur See. Mutter hatte wochenlang geweint. Sie wird es nie mehr erfahren, wo ihre Tochter ist. Vielleicht guckt sie aber auch von oben zu und ist schon lange im Bilde. Wer weiß?
Aber er weiß nun, sie lebt. Sie hat ihn gesucht und gefunden.
Simeon am Fenster … – wonach hat er eigentlich geschaut all die Jahre?
Nun sitzt er anders am Fenster. Jetzt kann kommen was will – auch der Tod.
Morgenandachten NDR 90,3 für Dez 04 am 06.12.2004, Aufnahme 17.11.04, 14 h
QUELLE: Gottesdienstinstut Nordkirche