MARIA
Wenn der Engel zu ihr in die Stube kommt, wenn er so einfach da ist, dann bricht immer eine neue Zeit an. Heute Morgen zum Beispiel, kurz nach dem Aufwachen war er wieder da. Dann wird der Tag heller. Sie sieht ihn am Fenster. Heute hat er geschmunzelt und ihr zugenickt.
Der Kleine hat die Füße im Schlaf in ihre Hüfte gestemmt. Es ist 7. Um 9 muss sie an der Kasse stehen. Hunderte von Seifen und Parfüms werden heut wieder durch ihre Hände gleiten. Ein Kinderkopf riecht anders. Den gibt’s nicht im Flakon.
Sie riecht noch mal ausgiebig an Joscha. Er zuckt im Schlaf.
Sie schaut nach dem Engel. Er ist schon gegangen.
Ihr Freund hat kein Geld, Sie verdient was sie brauchen.
Aber es reicht nicht für beide.
Maria ist ein bisschen seltsam. Sie weiß, ein Engel steht in ihrem Zimmer. Irgendwann bringt er ihr eine Nachricht. Etwas von Bedeutung, das sie tanzen lässt. Das hat sie schon als kleines Mädchen geträumt.
Wenn niemand an die Kasse kommt, sieht sie ihn manchmal auch. Er steht dann am Ausgang, zwischen all den Einkaufswagen. Aber er sagt nichts, er ist nur da. —Irgendwann wird er was sagen. Aber jetzt noch nicht. –
So ist Advent entstanden. Dadurch, dass ein Engel bei Maria im Zimmer stand. Bei der großen Maria, die man überall in den Kirchen sieht mit dem blauen Umhang.
Die Maria an der Kasse kennt sie aus der Krippe von Oma.
Dann packt die alte Frau Wuttgereit ihre Spülmittel auf das Laufband, Maria tippt und schaut rüber zum Engel. Er steht noch da. Frau Wuttgereit guckt auch dahin, aber sie sieht nichts. Nur Einkaufswagen. ‚Kindchen, du träumst.’ sagt sie, „mach jetzt, ich muss zu meinem Sohn, der hat Fieber.“
Die große Maria bekam Besuch, damals, und der Engel brachte ihr die Botschaft. Sie werde ein Kind zur Welt bringen, das sei von anderer Sorte. Und wenn es groß geworden sei, würde es der Welt etwas Großes zeigen.
Maria, die Mutter Jesu, hat es dann nicht mehr erlebt, wie sich der Schein ihres Sohnes um die Welt verbreitet hat. Die Kreuzzüge hat sie zum Glück nicht miterlebt, aber auch nicht die vielen, die in Jesu Namen geträumt haben von der anderen Welt. Und Träume können ja alles verändern.
Aber wer weiß, vielleicht ist es die Maria der Ikonen, die Maria aus Lourdes, die Maria der Erscheinungen, vielleicht ist sie der Engel, der immer bei unserer Maria am Fenster oder an der Kasse steht und etwas Großes flüstert. Nur einmal und dann für immer. So spricht, dass es eines Tages zu einem großen Schritt reicht. Der ist dann von anderer Sorte.