
Titel 11-2017, Zs. Junge Kirche
11/2017, Junge Kirche, Ausgabe 3/2017
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Michael Lerner
Der Antisemitismus ist zurück und geht nicht mehr weg
Plötzlich ist der Antisemitismus zurück. Über einhundert Grabsteine wurden früh am Sonntag, dem 26. Februar, auf einem jüdischen Friedhof in Philadelphia in einem Akt gewalttätigen Hasses umgeworfen, nur eine Woche nach einem ähnlichen Übergriff auf einen jüdischen Friedhof in Missouri.
Seit der Wahl Donald Trumps gab es hunderte von Bombendrohungen auf jüdische Institutionen, gleichzeitig vermelden Hochschulen einen dramatischen Anstieg von antisemitischen Graffiti. Es wird berichtet, dass Präsident Trump ultrarechten Verschwörungstheoretikern folgt. Er habe in einer inoffiziellen Besprechung angedeutet, dass dies Operationen unter falscher Flagge sein könnten, hinter denen Juden stehen, die versuchen, Mitgefühl zu wecken und einen Opferstatus für sich zu reklamieren. Jüdische Führer im ganzen Land fordern Präsident Trump auf, eine umfassende Untersuchung dieser Welle von Aktionen anzuordnen, die darauf
abzielen, Juden Angst einzujagen. Unglücklicherweise sehen sie sich einer gewissen Indifferenz von Medien und Öffentlichkeit gegenüber, die von Vorwürfen des Antisemitismus übersättigt sind.
Missbrauch einer echten Gefahr
Als progressive Juden und einige protestantische Kirchen es wagten, Israel zu kritisieren, weil es Palästinensern Menschenrechte verweigerte, sagten das jüdische Establishment und viele Rabbiner in den Synagogen überall in den Vereinigten Staaten, dass diese Leute entweder Antisemiten seien oder „Juden voller Selbsthass“. Der Kongressabgeordnete Keith Ellison verlor seine Bewerbung um den Vorsitz im Democratic National Committee, der nationalen Organisation der Demokratischen Partei der Vereinigten Staaten, nachdem jüdische Organisationen und Veranstalter von Spendenaktionen das Gerücht gestreut hatten, er sei ein Antisemit – Grund war seine milde Kritik an Israels Politik. Nachdem etablierte jüdische Organisationen jahrzehntelang den Teufel an die Wand gemalt haben, indem sie junge Juden verunglimpften, die dieselben Rechte für Palästinenser wollen, nach denen wir Juden zu Recht für uns und viele andere unterdrückte Gruppen streben, muss man dem jüdischen Establishment einige Verantwortung dafür zuweisen, dass es der eigenen Glaubwürdigkeit geschadet und das Interesse und die besorgte Anteilnahme der amerikanischen Öffentlichkeit verringert hat, jetzt, da sich unsere Gemeinschaft echtem Antisemitismus gegenüber sieht. Unterdessen ist die Maßnahme der israelischen Knesset (vom 6. März 2017) – Besuchern die Einreise zu verweigern,
die Waren aus der Produktion der Siedlungen der Westbank boykottieren – ein weiterer selbstzerstörerischer Akt, der hoffentlich von vielen von uns verurteilt wird, die Israel lieben, aber die Verweigerung der Menschenrechte gegenüber den Palästinensern hassen. Israels Existenz wird oft damit gerechtfertigt, dass das jüdische Volk ein Recht auf eine Heimat hat. Aber jetzt unternimmt die Knesset Schritte, die es vielen Juden unmöglich machen, Israel zu besuchen, geschweige denn dahin zurückzukehren, und das nur, weil diese Juden eine andere politische Ansicht über das moralische Recht der Besatzung haben. Solchen Juden und Nichtjuden den Besuch Israels zu verweigern, ist ein weiterer Grund für einsichtige Menschen, die
israelische Politik anzuzweifeln, ohne dass sie dafür als antisemitisch abgestempelt werden. Politische Meinungsverschiedenheiten sind kein Antisemitismus und sollten nicht mit den abscheulichen Taten gegen Juden verwechselt werden, die wir haben aufkommen sehen, seit ultrarechte Unterstützer Trumps nach der Novemberwahl in Erscheinung getreten sind; von denen einige sogar stolz den alten Nazigruß bei ihrer öffentlichen Zusammenkunft in Washington zeigten!
Der jetzt aufkommende Antisemitismus ist eine echte Gefahr, und das nicht nur für Juden. Es wäre ein Fehler zu glauben, dass sich Rassismus gegen Juden trennen ließe von dem Angriff auf Menschen anderer Hautfarbe, auf Frauen, Schwule und Lesben, Muslime und Einwanderer; und die Liste ließe sich fortsetzen. Juden haben an prominenter Stelle opponiert gegen die Versuche der Trump-Administration, Muslime daran zu hindern, in die USA zu kommen, oder eine Registrierung von Muslimen vorzunehmen. Unterdessen haben amerikanische Muslime eine Kampagne gestartet mit dem Ziel, Geld für die Wiederinstandsetzung jüdischer Friedhöfe einzuwerben, auf die ein Anschlag verübt worden ist, und muslimische Veteranen der US-Armee haben angeboten, jüdische Friedhöfe zu verteidigen. Ironischerweise haben die Hasstäter unsere beiden Gemeinschaften in neuer Weise zusammengebracht.
Juden werden von Liberalen und Progressiven auf Grund ihres relativen wirtschaftlichen Erfolgs in den Vereinigten Staaten selten als Teil der unterdrückten Gruppen gesehen. Dass die jüdische Verwundbarkeit so leicht übersehen wird, liegt an einem ökonomischen Determinismus, der Unterdrückung in erster Linie an Einkommen oder Wohlstand abliest, wobei die Tatsache übersehen wird, dass die Nazis in einem Deutschland aufkamen, wo Juden in der Wirtschaft ähnlich erfolgreich waren. Jüdische Unterdrückung lässt sich wie die Unterdrückung von Lesben und Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Leuten oder die von Frauen nicht auf ökonomische Bedürftigkeit reduzieren. Progressiven Menschen ist klar, dass Frauen und Schwule Unterdrückung erleben, selbst wenn sie wohlhabend sind. Und doch, wenn es Juden betrifft, lässt der momentane Erfolg amerikanischer und israelischer Juden viele linksorientierte Menschen das sich wiederholende Muster
vergessen, nach dem ähnlich erfolgreiche jüdische

Die Installation „Monument“ ist ein Werk des syrisch-deutschen Künstlers Manaf Halbouni. Von Anfang Februar bis April 2017 bildete drei ausrangierte Busse hochkant eine Barrikade auf dem Dresdner Neumarkt vor der Dresdner Frauenkirche. Historisches Vorbild ist eine Barrikade, wie sie während des Bürgerkriegs in Syrien in Aleppo als Schutzschild gegen Scharfschützen gedient hat. Die Fotografie dieser Barrikade wurde als eines der Symbole für die humanitäre Katastrophe des Syrischen Bürgerkrieges weltweit bekannt. Unter massiven Störungen wurde die Installation eröffnet. Mehrere Dutzende Gegner schimpften gegen die Redner und ließen diese kaum zu Wort kommen.
Gemeinschaften ausgelöscht wurden, weil hassbestimmte Ideen wieder aufkamen, die eine hartnäckig andauernde Geschichte in westlichen Gesellschaften haben.
Faktoren jüdischer Verletzbarkeit.
Drei Faktoren tragen zur jüdischen Verletzbarkeit bei.
Erstens: Die Angst der Eliten vor der revolutionären jüdischen Botschaft. Tausende von Jahren haben diese Eliten ihre Macht bewahrten zum Teil durch Zwang und Gewalt, zum Teil aber auch durch Überredung der relativ Machtlosen, dass die gewaltigen Ungleichheiten in unserer Welt das Produkt der menschlichen Natur oder des göttlichen Willens seien und sich nicht ändern ließen. Doch die jüdische Thora erzählt eine andere Geschichte: dass es eine Kraft im Universum gibt (JHWH, gewöhnlich falsch übersetzt als „Gott“ oder Jehova), die die Verwandlung der Welt möglich macht – von der gegenwärtigen bedrückenden Wirklichkeit zu einer zukünftigen Befreiung. Und wir Juden sind der lebende Beweis; denn unsere Geschichte, von der Teile an jedem Sabbat gelesen und am Sederabend des Pessachfestes gefeiert werden, besagt, dass wir Sklav/innen waren, doch jetzt frei sind,
geschaffen nach dem Bild jenes Gottes und damit beauftragt, bei der Befreiung der Welt Partner/innen Gottes zu sein. Das erbost die Mächtigen, die jene Juden und Jüdinnen belohnen, die die Botschaft vergessen oder entstellen, und die fast durchweg in der Geschichte der westlichen Welt nur allzu bereit waren, den Rest zu verfolgen aus Angst davor, dass die ansonsten unterdrückten Massen anfangen könnten zu glauben, dass sie ihre Lage der Lohnsklaverei ändern und an ihrer Unterdrückung selbst schuld sein könnten.
Zweitens gibt es den Hass auf Jüdinnen und Juden, den das Christentum 1600 Jahre gelehrt hat und der immer noch in den christlichen Evangelien vermittelt wird, die die Juden für den Tod des Gottessohns verantwortlich machen. Während diese Lehre in den Jahrzehnten nach dem Holocaust aus der katholischen Liturgie entfernt wurde, bleibt sie ein wesentlicher Bestandteil der Darstellung der Kreuzigung in den Evangelien und dementsprechend unweigerlich ein Faktor im Bewusstsein von mehr als einer Milliarde Christ/innen. Diese Erzählung war es, die Jüdinnen und Juden in
der Geschichte und noch heute zur Zielscheibe gemacht hat, wenn es den Mächtigen darum geht, allgemeine Wut von sich abzulenken.
Drittens haben viele Juden die Chancen genutzt, die sich ihnen in den vergangenen 180 Jahren geboten haben. Seit uns die christlichen Gesellschaften erlauben, aus den Gettos herauszukommen, in die sie uns gezwungen hatten, ist es möglich, Positionen einzunehmen, in denen wir von der Bildung und den intellektuellen Fähigkeiten Gebrauch machen konnten, die unsere Tradition vielen Juden als effektives Mittel zum Aufstieg in Positionen im hart umkämpften Stellenmarkt nahe gebracht hat. Als Ärzte, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter, Lehrer, Psychologen, Richter sind wir das öffentliche Gesicht der herrschenden Eliten geworden. Jene Eliten fanden es oft zweckmäßig, den Massen die Botschaft zu vermitteln, dass Juden nur im Eigeninteresse handeln würden und dass Egoismus und Materialismus ein Produkt von Juden seien, die an niemandem als sich selbst interessiert sind. Diese Botschaft verschleiert raffiniert die eigentliche Quelle des Egoismus und des Materialismus in der Alltagserfahrung von jedermann, der dem hart umkämpften Arbeitsmarkt ausgesetzt ist und zwangsläufig dessen erbarmungsloses Wertesystem internalisiert.
Während in den Vereinigten Staaten Farbige, Schwule und Lesben und Muslime bisher bevorzugte Ziele der herrschenden Eliten gewesen sind und ihnen zusammen mit Feministinnen Egoismus vorgeworfen wurde (wegen ihrer kämpferischen Bemühungen, die Geschichte der Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu korrigieren, was als „Nur-für-sich-selbst-sorgen“ interpretiert eine gewaltige Lüge ist), hat die Ultrarechte in den Vereinigten Staaten niemals aufgehört, Juden zu erniedrigen. Sollte sich die Lage unter dem System Trump wirtschaftlich verschlechtern, könnten Jüdinnen und Juden wieder ein Hauptangriffsziel werden. Anders als bei Rassismus, Sexismus und Homophobie, die allesamt einer öffentlichen kritischen Auseinandersetzung unterzogen wurden, verbunden mit systematischen Versuchen, ihren Einfluss auf die jüngeren Generationen zu beseitigen, ist Antisemitismus niemals Gegenstand einer solchen Untersuchung gewesen. Statt die Ideen, Lügen und Zerrbilder, die vielen Generationen in der Vergangenheit beigebracht wurden, systematisch zu untersuchen, wurde das Thema schlicht als unangebracht verworfen. Mit dem Kampf der Westmächte gegen die Nazis wurde während des Zweiten Weltkriegs und danach die Befürwortung des Antisemitismus zu einer unerlaubten Idee. So verschwand der Antisemitismus im Untergrund. Die meisten Student/innen an den Universitäten und Hochschulen heute und in den letzten fünfzig Jahren haben gelernt, wie sie rassistische, sexistische und homophobe Behauptungen entkräften können; sie haben aber nie gelernt, wie sie das im Hinblick auf Antisemitismus tun können. Sie haben kein Ideensortiment, um dem Antisemitismus zu begegnen, außer einer vagen Vorstellung, dass der nicht gut ist. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass das ein wirkungsvolles Bollwerk sein wird, sollten
die Jahre unter Trump einen anhaltenden Rechtspopulismus hervorbringen, der Raum für Antisemiten schafft. Wir können nicht nur mit den Schultern zucken, während der Antisemitismus nach mehreren Jahrzehnten des Schattendaseins
wieder auftaucht. Solange Judenhass von den liberalen und progressiven Kräften nicht als wesentliches Problem gesehen wird und in den Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit in der amerikanischen Politik rückt, werden Juden Grund haben,
sich Sorgen zu machen.
Lebensperspektiven
Die Lösung ist eine Bewegung, die den Menschen hilft zu verstehen, dass der Schmerz in ihrem Leben durch die Werte des kapitalistischen Systems verursacht wird. Es geht um eine gewaltfreie Bewegung, die das System ersetzt durch eine Gesellschaft, die auf Liebe, Großzügigkeit, ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit, auf Frieden und gesundem Umweltbewusstsein gründet. Aber eine derartige Bewegung wird sich kaum entwickeln können, solange sie nicht imstande ist, die jüdischen Menschen als gleichwertige Mitglieder in ihren Reihen aufzunehmen und dabei ihre Verletzbarkeit anzuerkennen und dem jüdischen Volk echte Achtsamkeit und echtes Mitgefühl zu zeigen.
Andererseits müssen wir Juden uns jenen Juden in den Weg stellen, die daran verzweifeln, je in nicht-jüdischen Gesellschaften fair behandelt zu werden und zu Recht über das Versagen der Welt empört sind, einschließlich über die Vereinigten
Staaten, die jüdischen Flüchtlingen während des Holocausts die Türen nicht öffneten. Als Konsequenz haben jene Juden sich einer Politik der Macht und Stärke zugewandt als dem einzigen Weg, der das jüdische Überleben sicherstellen kann. Zu viele Juden haben den Gott der Liebe und des Mitgefühls aufgegeben. Sie haben das Gebot der Thora aufgeben, nicht nur unseren Nächsten zu lieben, sondern auch „den Fremden zu lieben“. Diese Juden handeln, als ob Erlösung nur durch die israelische Armee kommen kann und nicht dadurch, dass man eine Welt der Liebe und Gerechtigkeit errichtet. Deshalb versuchen wir bei Tikkun eine Bewegung jüdischer Menschen aufzubauen, die ein universalistisches Verständnis des Judentums haben und an einem Judentum der Liebe arbeiten. Ein Hauptgrund für den Aufbau eines Network of Spiritual Progressives ist die Notwendigkeit einer internationalen Organisation, die weltliche Humanisten, Atheisten und religiöse Menschen jeglicher möglichen religiösen Gemeinschaft zusammenbringt. Allen gemeinsam muss es darum
gehen, unerschrocken eine Welt der Liebe und Gerechtigkeit zu suchen und das nicht als eine utopische Aufgabe ansehen, sondern als die fundamentale Notwendigkeit für das Überleben der gegenwärtigen Welt. Das ist die Herausforderung, der sich unsere Generation von Juden stellt. Sie ist der effektivste Weg, den Hassern der Mehrheitsgesellschaft entgegenzuwirken, die unter der Präsidentschaft Trumps von der Leine gelassen wurden und die langsam auch das Judentum von innen zerstören oder pervertieren. Sie verwandeln es in eine johlende Menge, die Israels Besetzung der Westbank bejubelt und dabei die ethische Kernbotschaft vergisst, die das Judentum zukunftsfähig gemacht hat in einer Welt, in der Macht immer noch benutzt wird, um die Interessen der Wenigen auf Kosten des Wohlergehens der Vielen und der
Zukunftsfähigkeit unseres Planeten Erde zu fördern.
Auf nicht allzu lange Sicht sind Liebe, Großzügigkeit und (soziale, ökonomische und ökologische) Gerechtigkeit, besonders in Verbindung mit Ehrfurcht, Bewunderung und radikalem Staunen über die Erhabenheit des Universums und die Heiligkeit allen menschlichen Lebens auf diesem Planeten, der beste Weg zur Sicherheit, für Jüdinnen
und Juden wie für jeden anderen auf der Erde.
Der Artikel ist unter dem Titel „Anti-Semitism is Back and Won’t Go Away“ im Tikkun Magazine vom 10. März 2017 erschienen. Er wurde für die Junge Kirche übersetzt.
und leicht gekürzt von Volker Eggers.
Rabbi Michael Lerner, Herausgeber des Magazins Tikkun, Vorsitzender des interreligiösen Network of Spiritual Progressives und Rabbiner der Synagoge-ohne-Mauern Beyt Tikkun in Berkeley, California.