Ich gehe gerne auf Friedhöfen spazieren. Sie strahlen selbst dann eine überirdische Ruhe aus, wenn sie mitten in einer quirligen Stadt oder neben der Autobahn liegen. Ging ich mit der Uroma über den alten Friedhof im Städtchen, war ich fasziniert, besonders dann, wenn sie erzählte, dass hier einst ein Kind von ihr beerdigt worden war.
Während der Tod für das Individuum eine unumkehrbare Grenze darstellt, geht die Kultur schöpferisch darüber hinaus: Es entsteht etwas, was von jedem Menschen bleibt, auch dann noch, wenn es ihn nicht mehr gibt. Irgendwann hat jeder Mensch verstanden, dass er sterblich ist. Ist es das, was uns vom Tier unterscheidet? Sicher, auch Tiere kennen Todesangst – doch keines von ihnen bestattet die Verstorbenen und errichtet Grabmäler zum Gedenken an jene.
Das übernehmen die Hinterbliebenen, die Überlebenden, wenigstens in den meisten Fällen. Ich kenne nur wenige Ausnahmen:
Auf dem dörflichen Friedhof wies mich der Mitbewohner auf einen Grabstein hin, der bis vor kurzem nur ein Datum, das Geburtsdatum trug. Inzwischen ist auch das Todesdatum eingemeißelt und mit Gold gefärbt. Beide Daten liegen über 100 Jahre voneinander entfernt.

Am Kasseler Stadtrand beginnt der Habichtswald. Initiiert von Harry Kramer, Kunstprofessor in Kassel, entstand dort mit der Künstlernekropole ein öffentlicher Ort der besonderen Art. Künstler können ihre eigenen Grabmale gestalten, müssen sich jedoch im Gegenzug verpflichten, dass sie sich nach ihrem Tod hier auch tatsächlich beisetzen lassen.
1992 eröffnet, sucht das Kuratorium die Künstler aus und fragt sie an. Mittlerweile stehen acht Grabzeichen, maximal vierzig sind möglich. Die Skulpturen überschreiten die Grenze zwischen Kunst und Alltag, zwischen Leben und Tod. Da jeder Künstler sein eigenes Grabmal gestaltet, ist er auch sein eigener Auftraggeber. Zwar sind private Friedhöfe in Deutschland nicht erlaubt, sie müssen entweder von einer Glaubensgemeinschaft oder Kommune betrieben werden. Im Fall der Künstlernekropole wurde jedoch eine Utopie Kramers Realität. Er wurde übrigens selbst hier bestattet, allerdings ist seine Grabstätte nicht mit einem Grabmal gekennzeichnet, nur ein Baum trägt seine Initialen.
„Die Künstler haben keinen Einfluß auf Kulturpolitik, Museumsankäufe und Programme internationaler Ausstellungen. Genau besehen, ist das auch gut so; sie würden sich sonst als Gladiatoren in der Arena selbst ausrotten. Der Wettstreit auf dem Friedhof der Eitelkeiten ist ein unblutiger. Melancholie, Einsamkeit und Repräsentanz dieses Berufs kann sich keinen geeigneteren Ort der Selbstrealisierung und Selbstinszenierung wünschen. Der Künstler kann nur beim eigenen Grabmal sich selbst Auftraggeber und Mäzen sein. Allein das ist Legitimation genug.“
– Harry Kramer
Der Tod stellt die Frage nach dem Sinn, allerdings ist für uns Menschen nicht der Tod das Problem, sondern das Wissen um ihn. Er stellt alles komplett in Frage. Während die Sinnfrage von der Religion einfach damit erklärt wurde, was die Menschen nach ihrem Tod erwarte, müssen moderne Menschen diese Frage selbst beantworten.

„Denken Sie stets daran, mich zu vergessen“, vom Grabmal Timm Ullrichs sieht man nur eine Glasplatte. Die Skulptur selbst ist eine Negativform, ein ausgesparter Mensch, in den der Spaziergänger via Fußsohlen hineinschauen kann – so bleibt er als Anwesender abwesend und ist doch nicht mehr zu sehen.

Bei dem Grabmal von Karl Oskar Blase verschmilzt der Augenblick oder Moment zu einem Monument. Es gibt Augenblicke, die für das ganze Leben eine Bedeutung haben und in der Erinnerung überdauern, auch wenn das Vergessen bereits zu Lebzeiten einsetzt.
Es gibt viele Situationen im Leben, die nur begrenzt antizipierbar sind, das Sterben als Übergang ist eine davon. In der Sprache lässt sich die Statusveränderung nachweisen und bedeutende Veränderungen wie Taufe, Heirat oder Schulanfang werden durch besondere Feiern gewürdigt.
Hier sind Grabmäler Lebenswerke.
Die Vorstellung, dass nach dem Tod, dem Nicht-mehr-sein die Erinnerung bleibt, kann tröstlich wirken. Und der Umgang mit dem Tod, der Verweis über das Leben hinaus, der ist für mich ein Teil dessen, was Kultur ausmacht. Sie hat ihren Ursprung im Wissen von Tod und Sterblichkeit und versucht, über die Begrenztheit des Menschen und dessen Planen, Handeln und seine Erfahrung hinauszudenken. Wer nicht daran glauben kann oder mag, dass ein Teil von ihm unsterblich ist und somit über den Tod hinaus lebendig bleibt, für den mag sein Handeln wenig sinnvoll sein.
Verbunden mit: Blogparade Kulturblick.