Weshalb sich die Amerikaner für ein «auserwähltes Volk» halten
Das Selbstbewusstsein der Amerikaner als «auserwähltes Volk» ist durch Einsichten Luthers geprägt. Denn für viele amerikanische Bürger ist Freiheit nicht nur ein politischer, sondern auch ein religiöser Wert.

Im Selbstverständnis der USA in Politik und Kirche wirken manche Ideen Martin Luthers bis zur Gegenwart nach. (Bild: Christopher Anderson / Magnum)
1607 landeten die ersten Engländer in der Neuen Welt im späteren Staate Virginia; fünfzehn Jahre später folgten ihnen die ersten Siedler in Neuengland. Beide Gruppen wurden von Pfarrern begleitet; im ersten Fall war es ein anglikanischer Geistlicher, im zweiten Fall das, was die Zeitgenossen einen Dissenter nannten. Beide waren Protestanten. Der Anglikaner war zudem ein Repräsentant der englischen Staatsreligion, die noch immer Elemente der katholischen Kirche mit neuen protestantischen Glaubenselementen, vor allem aus dem Bereich der reformierten Theologie, verbanden. Der sogenannte Dissenter, der in der Nähe von Plymouth in Neuengland gelandet war, repräsentierte dagegen eine radikale Variante reformierter Theologie; er und seine Glaubensbrüder sollten alsbald in Neuengland eine neue Konfession, die sogenannte kongregationalistische Kirche, gründen.
«Unmittelbar zu Gott»
Dazu kamen wenig später erste Lutheraner und die freikirchlichen Ansätze der Society of Friends, deren Mitglieder von ihren Gegnern aber spöttisch als «Quäker» («Zitterer», to quake) verunglimpft wurden. Aus diesen Anfängen entwickelten sich alle folgenden protestantischen Kirchen in den englischen Kolonien Nordamerikas. Dies gilt nicht nur für Freikirchen wie jene der Mennoniten und Baptisten, sondern auch für Methodisten, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus den Reformflügeln der anglikanischen Kirche in England hervorgingen.
Redet man über die Rolle und die Bedeutung von Martin Luther für das religiöse Leben in Nordamerika, dann machen die historischen Wurzeln des Protestantismus in den späteren Vereinigten Staaten eines deutlich: Am Anfang der Geschichte stehen weniger die theologischen Einsichten Luthers als die von Jean Calvin. Sieht man von unterschiedlichen theologischen Grundpositionen, etwa in der Abendmahlslehre, einmal ab, dann ist aber für die weitere Entwicklung ein Unterschied zwischen Calvin und Luther wichtig, nämlich die unterschiedlichen Rollen der Laien in den Kirchengemeinden. Während sich innerhalb der ersten dreissig Jahre in Neuengland das Prinzip der weitgehenden Selbstbestimmung der Laien innerhalb der kongregationalistischen Gemeinden durchsetzte, hielten Lutheraner wie Anglikaner an der hierarchischen Ordnung der Gemeinden fest. Die ersten konkreten, auch politischen Folgen dieser unterschiedlichen Stellung sollten sich während der ersten Erweckungsbewegung zwischen 1730 und 1760 in den englischen Kolonien in Nordamerika zeigen: Die Erweckten begriffen sich als als «unmittelbar zu Gott», reklamierten ihr Recht auf eigenständige Interpretation der Bibel sowie selbständige theologische Einsichten und beanspruchten besondere Privilegien und einen eigenständigen Status gegenüber den nicht bekehrten Mitbürgern.
Während der Amerikanischen Revolution, als sich die nordamerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland lösten, verschärften sich einige dieser Tendenzen. Zwei gilt es besonders hervorzuheben. Einmal das Recht auf Selbstbestimmung der Kirchengemeinden, dann, insbesondere unter den Kongregationalisten Neuenglands, ein besonderes Elitebewusstsein, welches mit der Überzeugung einherging, dass ihre Gemeinden als «city upon a hill» auf Europa ausstrahlen würden. Der auch religiös fundierte Glaube, etwas Besonderes zu sein, übertrug sich während der Revolutionszeit auf den Grossteil der amerikanischen revolutionären Bevölkerung. Sie war überzeugt, dass die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika dem Kontinent Europa zum leuchtenden demokratischen und republikanischen Beispiel gesetzt seien. Noch Woodrow Wilson begründete als Präsident der Vereinigten Staaten 1917 den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg damit, dass es die Aufgabe Amerikas sei, die wahren demokratischen und republikanischen Ideale in ein durch Tyrannei und Despotie geprägtes Europa zu pflanzen.
Freiheit auf Amerikanisch
Dieses besondere Bewusstsein hat wenig mit dem Erbe des älteren Luther zu tun, der wesentlich dafür verantwortlich war, dass sich die Fürsten im protestantischen Europa als Landesherren und zugleich als Stellvertreter Gottes auf Erden fühlen konnten, eine Rolle, die zwar ohne theologische Bedeutung, aber in einigen wenigen Punkten noch heute vor allen Dingen in Deutschland vom Staat ausgefüllt wird. Vielmehr ist es das besondere Bewusstsein, welches der junge Luther mit den Formeln «Freiheit eines Christenmenschen», «Jeder ist unmittelbar zu Gott» und das «Priestertum aller Getauften» prägte – Prinzipien, die insbesondere in den Freikirchen Nordamerikas (vor allem von den Quäkern, Mennoniten, Baptisten und Methodisten) bis heute gepflegt werden. Sie stärken das amerikanische Selbstbewusstsein, ein «auserwähltes Volk» zu sein, das der Freiheit wie dem Kapitalismus auf der Welt zum Siege verhelfen müsse. Deutliche Spuren dieser tief in der amerikanischen Geschichte verankerten Grundüberzeugung finden sich nicht nur in der Tea-Party-Bewegung, sondern auch bei allen fundamentalistisch orientierten Konfessionen, in denen sich zentrale Gedanken von Martin Luther erhalten haben.
Diese Vorstellung findet sich auch in der Gedankenwelt radikaler amerikanischer Republikaner, ebenso wie in der des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. «America first» ist nicht nur ein für Europäer grossmäuliges Diktum, sondern gehört mit zum Teil unterschiedlichen Inhalten auch zum Kernbestand amerikanischer Grundüberzeugung. Heute kann man diese in den Schlagworten der Freiheit, der Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung fassen, die das Besondere der USA herausstellen sollen. «Die Freiheit eines Christenmenschen» umfasst in Nordamerika nicht nur den religiösen Menschen, sondern auch den Bürger mit seinen Rechten und Pflichten. Freiheit bedeutet für ihn nicht, Rechte und Pflichten an den Staat zu delegieren, sondern diese auch mit den damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen wahrzunehmen. Dass dies auch das Recht auf Schutz des eigenen Lebens und damit den Besitz von Waffen impliziert, sei nur am Rande erwähnt.
Für viele amerikanische Bürger ist Freiheit nicht nur ein politischer, sondern – und dies ist lutherisch gedacht – auch ein religiöser Wert. Und den muss man nicht nur glauben und leben, sondern für den muss man auch etwas tun – auch mit dem Geldbeutel. Geht man am Sonntag in die presbyterianische Kirche, dann zückt hier wie überall sonst in den USA der Kirchgänger, der meist auch Gläubiger ist, einmal im Monat sein Checkbuch – er schreibt einen Check, steckt ihn in ein vorbereitetes Couvert und deponiert dieses in einem Fach vor seinem Sitz. Kirche, Gottesdienst, Pfarrer, caritatives Engagement der Gemeinde, Kirchen- und Gemeindegebäude – all dies kostet Geld und wird mit Spenden bezahlt. Wer in Europa in einer reformierten Gemeinde aufgewachsen ist, kennt dies meist; aber für deutsche Lutheraner ist das neu; denn für diese wird die Kirchgemeinde noch immer durch die Kirchensteuer und nur zu einem kleinen Teil durch Spenden finanziert. Dies heisst auch, dass dadurch der Staat im caritativen und sozialen Bereich stärker entlastet wird als in Europa.
Dünkelhafter Blick auf Europa
Luthers Erbe war und ist gut für die USA, und zwar sowohl für die Politik wie auch für die Kirchen. Amerikanische Protestanten, die von Martin Luthers wie von Jean Calvins Erbe zehren, haben den umfassenderen Freiheitsbegriff, schultern dafür grössere Verantwortung und halten sich deshalb für bessere Menschen. Aus amerikanischer Sicht haben sich Europäer weitgehend vom protestantischen im Spezielleren, allgemeiner vom christlichen Glauben entfernt und gelten deshalb als schlechtere Menschen. Die meisten Amerikaner leben ihren protestantischen Glauben, viele sind Fundamentalisten und halten das, was im Alten Testament steht, für wahr – ebenso wie dass Schwarze und Muslime böse sind, genauso wie die Juden, die Christus kreuzigten, selbst wenn man dies nicht öffentlich eingesteht. Ein weiteres Opfer hat der Amerikaner gebracht, er hat dem frauenfeindlichen Bild des Apostels Paulus öffentlich abgeschworen und glaubt nun, dass Frauen stark seien – zumindest solange er nicht im Umkleideraum mit anderen Männern sein Testosteron-geleitetes Seelenleben austauscht.
Vor diesem historischen Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob und wie Amerikaner im Allgemeinen und Lutheraner im Besonderen das Luther-Jubiläum begehen. Sieht man sich die Websites der lutherischen Synoden – dies sind die institutionalisierten Formen der lutherischen Kirche – an, dann stellt man überrascht fest, dass dort mit keiner Silbe das Luther-Jubiläum erwähnt wird. Alle konzentrieren sich ausser auf die unvermeidlichen Selbstauskünfte auf die grossen sozialen Fragen, zu deren Lösung sie einen Beitrag leisten wollen – sei es in der Form von Mission in Afrika oder durch caritative Programme, die in den USA Not lindern helfen sollen. Sucht man genauer, dann findet man Hinweise auf Martin Luthers Antisemitismus und vereinzelt die These, dass Luther auch zur Befreiung der Frauen vom Joch der Männer beigetragen habe. Ansätze zur Erinnerung an das Luther-Jubiläum sind, soweit feststellbar, alle von Deutschland initiiert. Wirkungsmächtig sind dabei die drei grossen Ausstellungen «Martin Luther: Art and the Reformation», «Word and Image. Martin Luther’s Reformation» und «Law and Grace: Martin Luther, Lucas Cranach and the Promise of Salvation», die bis Januar 2017 mit hohem finanziellem Aufwand der deutschen Regierung in Minneapolis, New York und Atlanta durchgeführt wurden und grossen Zuspruch fanden – Zuspruch, der aber vielleicht eher den spektakulären Ausstellungsstücken und den reich bebilderten Katalogen als den Verdiensten Luthers geschuldet ist.
Unbekümmerte Aussenpolitik
Hätte sich Martin Luther in den USA heute mit seinem unbegrenzten Freiheitsbegriff und der festen Überzeugung, Teil des «Neuen Jerusalem» zu sein, wohl gefühlt? Oder hätte sich Luther für die Alte Welt entschieden, für einen starken Staat, dafür, dass der Bürger eine Reihe seiner Rechte an diesen delegiert und dafür eine Einschränkung seiner Selbstbestimmung in Kauf nimmt? Die Vereinigten Staaten votierten und votieren noch immer für den jungen Luther und nicht für jenen älteren Reformator, der die Bauern beschimpfte und Adel und Könige und damit auch den starken autoritären Staat lobte. Der junge Luther trug mit Enthusiasmus seine Botschaft in die Welt, gleichgültig, ob diese an ihr interessiert war oder nicht. Auch heute prägt diese Unbekümmertheit, gleichgültig, ob die restliche Welt an der amerikanischen Politik leidet oder nicht, noch die Aussenpolitik des Landes. «America first» hat zwei Seiten: Die eine wurde von Wilson 1917 formuliert und ab 1948 durch den Marshall-Plan zum Segen Europas verwirklicht, die andere wird durch politische Elemente des radikalen Konservativismus gepflegt. In beiden bleiben protestantische Elemente und damit Grundüberzeugungen Martin Luthers und Jean Calvins sichtbar.
Quelle: Protestantismus in den USA: Weshalb sich die Amerikaner für ein «auserwähltes Volk» halten | NZZ