Jubilierendes Christentum.
Nachbetrachtungen zum Reformationsjahr
Gastbeitrag für das wunderbare www.feinschwarz.net (dort eine leicht gekürzte Version)
- Ein Oktobermorgen. Ich schlage die Zeitung auf. Halt! Natürlich weiß ich das: Kaum noch jemand tut dies. Geteiltes Wissen ist rar geworden in der Welt, in der ich lebe. Zerfleddert, aber frisch aufgeladen liegt das Tablet neben meiner Kaffeetasse. Ich überfliege die Notizen, die Freundinnen und Kollegen mir zu ihren Vorhaben und gemeinsamen
Projekten auf den virtuellen Schreibtisch gelegt haben und scrolle zu dem, was über die vermeintlich „große Welt“ berichtet wird.
Szene Eins.
„Reformationsjubiläum ein Riesenerfolg“. Ich lese von vollen Kirchen, hohen Taufzahlen, Menschen, die neu dem gepredigten Wort trauen, Diakoniestationen und evangelischen Kindertagesstätten, die dank großzügiger Spenden frei von finanziellen Sorgen sind, von Menschen, die stolz erzählen, einer christlichen Kirche anzugehören. Rechtskonservative Zeitungen protestantischer Binnenmilieus stellen ihr Erscheinen ein, weil sie keine Themen mehr haben. Stattdessen wird allen Abonnenten Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zugeschickt. Dass Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung evangelisch getraut werden können, Frauen predigen und Christus alle in allen Kirchen zum Abendmahl einlädt, ist keine Schlagzeile mehr wert.
Ist das tatsächlich meine Kirche? Ich reibe mir verwundert die Augen und trinke vorsichtshalber noch einen Schluck Kaffee.
Szene Zwei.
„Reformationsjubiläum ein Riesenerfolg“, lese ich in der Zeitung. Alle Erwartungen seien übertroffen worden. Tausende von Veranstaltungen habe es gegeben. Und wieviel da gewesen seien – nun ja: Was bedeuten schon Zahlen angesichts der Gewissensbildung Einzelner? Die Stätten der Reformation gut besucht, die Tourismusindustrie zufrieden. FAZ kann ja viel von Flops erzählen. „Wir“ kennen die Wirklichkeit! Im Krieg um Deutung nur nicht nachgeben! Und Martin Luther im Kinderspielzeugformat, Johannes Calvin als Keramikkachel und schließlich Zwinglizeugs retten die Verschenkkultur evangelischer Kirchengemeinden aus ihrer alljährlichen Not und sorgen für passable Absatzzahlen. All das zu erdenken und vor allem zu entscheiden, bindet die strategischen Kapazitäten der institutionalisierten evangelischen Kirche über Jahre: Komplizierte Kampagnenkommunikation, langer Atem für reformatorische Themen eine ganze Dekade lang, Formate, die innerkirchliche Lobbies abbilden, als hätten sie von usercentredness noch nie was gehört und großes Erstaunen angesichts gesamtgesellschaftlich fehlender Euphorie. Was können wir denn tun? – Jahre jedenfalls gehen ins Land, die Zeit gegeben hätten für eine solide Besinnung auf das, was reformatorisch heute prioritär ist. So ganz kann ich mich des Eindrucks nicht verwehren, hier werde Veränderung unter dem Mantel von Veränderungsrhetorik gerade vermieden: Die Institution wäre wohl gern etwas Anderes als sie selbst?! Mit #reformationwiesieniemandwill polemisiert Mancher schon früh und tapfer gegen ein Zuviel an Aktionismus, an Sichtbarkeit und ach so zweckmäßige Koalitionen mit ökonomisch oder inszenatorisch Mächtigen und weiß doch zugleich, wie wirkungslos dieser Protest ist. Social Media bleibt #neuland im Protestantismus, dessen Ausprägung – seiner Grundgeschichte im 16. Jh. zufolge – immerhin auch mit einem Umbruch des Medienparadigmas verbunden ist. Ironie, Resignation und verhaltene Versuche, in all diesen Dingen doch ein bisschen was gut zu machen, bestimmt diejenigen in der Kirche, die sie wirklich neu wollen.
Ist das tatsächlich meine Kirche? Ich verwundere mich gar nicht, ist doch die Kritik am Verhalten der Institution ein stehender Topos ihrer Denkerinnen und Denker, nehme aber sicherheitshalber doch noch einen weiteren Schluck Kaffee.
Szene Drei.
„Reformationsjubiläum“, denke ich und schaue auf meine Kirche. Es scheint so eine Art „Feier-Trotz“ im Protestantismus zu geben, der doch mit ausgelassenen Festen ansonsten eher so seine Schwierigkeiten hat: 1917, als Menschen ihre Kinder mit den Saatkartoffeln fürs nächste Jahr durch den Winter zu bringen begannen. 1983, als Kalter Krieg und Aufrüstung alles zu bannen schienen, wofür Kirche auf die Straße ging. 2017, wo wir bei Lichte betrachtet gar nicht so genau wissen, was wir da eigentlich feiern sollen.
Nie war die sachliche Resonanz auf Reformationsjubiläen besonders überzeugend und trotzdem haben die evangelischen Kirchen an dieser Art von Erinnerungskultur festgehalten. Als eine weiterbringende Ressource ist das eben dann einsichtig, wenn man Reformationsjubiläen eben nicht als Repräsentanz gegenüber einer – wie auch immer sich faktisch einstellenden – „außerkirchlichen“ Öffentlichkeit versteht (das wäre in früheren Jahrhunderten auch ein Anachronismus gewesen), sondern primär als Instrument interner Selbstvergewisserung. Und das ist doch noch etwas Anderes als ein großes Gemeindefest des Protestantismus! An symbolischen Wegmarken geht es dem Protestantismus so, wie wenn Du einen runden Geburtstag vor Dir hast: Er denkt über das nach, was war (und bestenfalls: weshalb es so war) und versichert sich, dass ja auch in Zukunft noch alles möglich ist und auch noch anders werden kann. Oder anders gesagt: Auch, wenn ich mich dem Unvermeidlichen nicht entziehen kann, habe ich die Möglichkeit, mich unabhängig – in Luthers Sinne: „frei“ – zu verhalten. Die argumentative Unabhängigkeit der Theologie, gerade weil sie sich angesichts dessen, wie Menschen jeweils leben, stets neu buchstabieren muss, ist ein zentrales Pfund neuzeitlichen Christentums. Entgegen binnenkirchlicher Intuition gilt also, dass Konformität, gleich welcher Couleur, begründungspflichtig ist.
Szene Vier.
Ich schreibe wohl besser eine eigene Geschichte zur Schlagzeile. Probehalber nehme ich an, die Kirche hätte sich gar nicht so wenig verändert, wie ich gemeinhin geneigt bin ungeduldig zu behaupten. Dann ist sie eine Welt von Kirchengemeinden und kirchlichen Orten, die es den Menschen gut und lebenswert machen will. Eine, die Sozialformen des 20. Jahrhunderts ebenso in sich birgt wie Amtsträgerinnen und Amtsträger, die offen und frei von aller Koketterie sagen, wo ihnen selbst die Kirche fremd ist. Manches ist viel zu selbstverständlich, Anderes bleibend zu ungewohnt. Eine Kirche, die fröhlich mit den Fröhlichen feiert und dir in deiner Trauer zur Seite steht – auch in all diesen kleinen Orten auf -by und -row und -kirchen, die für keine Lobby interessant sind und in denen fast niemand mehr Kirchensteuern zahlt. Eine Kirche, die sich kluge Intellektuelle mit umfassender akademischer – auch altsprachlicher – und lebensweltlicher Bildung leistet, die öffentlich das Wort erheben, die provozieren, klären, als Gesprächspartner für alle, die gesellschaftliche Verantwortung tragen, zur Verfügung stehen, die mitdenken und anregen, ohne selbst profitieren zu müssen. Diese Kirche schweigt mit Dir. Diese Kirche hat Worte angesichts des Todes.
Sie ist eine, die Gelegenheiten offenhält für geschützte Räume und heilige Zeiten, die den Einzelnen nie verrät und kulturelle Ritualbedürfnisse befriedigt. Und nie scheltet sie jemanden dafür, dass Du allein all das nicht erklären kannst. Aber sie sagt auch: Ich will es Dir erklären, was ich denke und tue, wenn Du magst. Wenn Du mir das Deine erklärst. Gerade dann, wenn „Erklären“ auch irgendwie out ist und die Rhetorik einer „Kommunikation auf Augenhöhe“ allzuoft schlicht auch geteilte Unwissenheit verschleiert. Denn: Bildung hilft. Auch dies gehört in die Grundgeschichte des Protestantismus: Reformatorische Kirche ist aufklärende Kirche. Reformatorische Kirche ist Kirche, die sich selbst Klarheit verschafft. Auch darüber, was sie jetzt endlich mal sein lässt.
Ist das tatsächlich meine Kirche? Und während ich nochmal Kaffee aufsetze, fallen mir all die Menschen ein, die für diese Kirche stehen. Reformationsjubiläum ist meine Wahrnehmungshilfe – sie richtet den Blick weg von angenommener Selbstverständlichkeit für das, was die Kirche sein soll (nämlich das, was ich selbst als prägend erlebt habe), auf das, was ihr unter gegenwärtigen und erwarteten Dingen geboten ist.
Ich möchte, dass Menschen aus ihren Kirchgebäuden, Gemeindezentren und dem „Immer-schon-so-Gesagten“ hinaustreten und auf ihre Kirche schauen: Jubilieren statt Jubeln, dem religiösen Ausdruck Bewegungsfreiheit verschaffen. Und ich möchte, dass Menschen, die in diesen Gebäuden, Worten und Gedanken immer die seltsam Anderen vermuten, wohlwollend auf diese Kirche schauen und sie in Beziehung setzen zu dem, was ihr eigenes Leben prägt. Und dass beide gemeinsam aushalten, wenn sich dort erstmal nichts zeigt.
Ich stelle die Kaffeetasse ab und seufze.
Szene Fünf.
Reformation ist dem Christentum selbst innewohnender Antrieb, sagen evangelische Theolog_innen. Mit einem neuzeitlichen Ursprungsdatum daran zu erinnern, setzt mehr oder minder performative Erwartungen frei: Eher selten in der ganz naiven Lesart, dass sich etwas davon wiederholen möge, was von der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts erzählt wird, häufiger so, „dass sich doch endlich etwas ändern möge“. Kaum jemand benennt allerdings Kriterien, anhand derer reformatorischer Erfolg oder Nachhaltigkeit messbar wären. Nein, wird gesagt, das sei ja auch unevangelisch. Die Institution versagt sich die Zielsetzung in der Annahme, nur so „für alle“ da sein zu können, und will damit bilden und unterhalten. Damit wird sie zur „weichen Droge“, tendiert inhaltlich zum Lifestyleaccessoire, an das man sich nach und nach gewöhnt und irgendwann übersieht. Der Wunsch, „für alle“ da zu sein, nivelliert die ästhetischen Codes statt das Urteilsvermögen zu schärfen. Niemand möchte aber dabei sein, wenn alles einerlei ist. Nicht „für alle“ ist die Kirche da, sondern für jede Einzelne. Menschen trauen heutzutage keinen Weltverbesserern, die sich zudem emotionalisierende Strategien aus moralischen Gründen versagen. In den unzähligen kleinen Veranstaltungen, die das Reformationsjubiläum motiviert hat, in brillanten Predigten, die sich – programmatisch – als reformatorisch verstehen (und es eigentlich sowieso schon immer sind), hören Menschen aber zu: Wie ich mit Schuld leben kann, woher Vergebung zu erwarten ist, was angesichts des Todes gesagt sein kann, worauf Verlass ist, wo ich neu anfangen kann, wie Gott handelt, wie ich mit Angst lebe.
Damit ist institutionalisierte Religiosität anschlussfähig für das Erleben Einzelner: Sie drücken ihre Verbundenheit durch Beteiligt-Sein (in einem umfassenden Sinne) an biografischen Schnittstellen aus, der Verheißung relevant-lebensbegleitender Deutungs- und Erlebenshorizonte hingegen stehen sie in der Mehrheit distanziert und skeptisch gegenüber. Nun ist die evangelische Kirche im 21. Jh. eine öffentliche Kirche. Öffentlich und damit auch generalisierend und anonymisierend bringt sie zu Gehör, was im persönlichen Nahbereich von Menschen Relevanz beansprucht. Weil Menschen ihre Passung dazu richtigerweise nicht veröffentlichen bzw. die Generalisierung immer auch Unschärfen aus sich heraussetzt, ist dieses öffentliche Handeln der Kirche nie vollständig zustimmungsfähig. Doch zugleich ist die Kirche in der Pflicht, vor aller Welt plausibel zu machen, um was es ihr geht – mit der Reformation. Deshalb handelt sie auch durch Kampagnen. Dabei kann sie sich aber offensichtlich nicht ganz von dem Blick freimachen, es handele sich gegenüber vermeintlichem Kerngeschäft um etwas „Uneigentliches“. Deshalb agiert sie dort, wo es um große Bilder geht, zögerlich und verhalten und ist selten überzeugend. Selbst, wenn sie sich den langen Anlauf einer inhaltlich orientierten Dekade gönnt.
Denn Kampagnen brauchen Bilder. Der Thesentüranschlag hallt heftig durch die Geschichte des europäischen Protestantismus. Das Jubiläum schafft sich zusätzlich, orientiert an zentralen Handlungsfeldern der institutionalisierten Kirche, seine Symbolorte: Seelsorge im Riesenrad, Konfi-Arbeit auf den Elbwiesen, „Luther und die Avantgarde“ zwischen Athen, Berlin, Kassel und Wittenberg. Missglückte Bildprogramme wie der Wittenbergsche Bieber zeugen vom Segen verhaltener Resonanz. All das unterschreitet notwendigerweise die Differenzierungsfähigkeit der evangelischen Kirche, und wäre doch hilfreich, wenn damit Gesprächsanlässe, die der Differenzierung dienten, auch abseits der wenigen Reservate gegenwärtiger theologischer Intellektuellenkommunikation, geschaffen wären. Gutes Handwerk hilft!
Die reformationsjubilierenden Kirchen haben viel getan. Sie werden – hoffentlich nicht nur rhetorisch – darauf trauen, dass die Wirkung des Wortes unabsehbar ist. Eine Kirche, die sich davon jedoch immunisieren lässt, ist keine Kirche, die die reformatorische Bewegung für sich aufnimmt. Alles Tun der Kirchen muss sich selbst daran messen, wie verlässlich, überzeugend und klar es auf seinen Inhalt verweist: auf ehemals „große Worte“, die heute in die kleinen Lebensschlagzeilen derer hineinbuchstabiert werden, für die institutionell-religiöse Semantik eine Fremdsprache ist.
Die Institution tut gut daran, in die Qualität kirchlichen Verkündigungshandelns, das diesem Anspruch nachstrebt, großzügig zu investieren, und zwar unabhängig davon, ob es in bewährten Formen auftritt oder gänzlich ungewöhnlich, unerwartet, experimentell.
Schließlich.
Ich denke an die ganz realen Notizen auf meinem virtuellen Schreibtisch und daran, wie sehr sich die Kirche, meine Kirche gerade in die Netze und Strukturen aller Welt verwebt und welch fein justierter, fragil gestalteter Segen davon ausgeht – wörtliche Wirksamkeit. Und ich trauere und ringe mit denen, die ihr Talent angesichts allgegenwärtiger Komplexität lieber vergraben. Auch gerade im Wissen und Vertrauen um eben jenes subkutane Handeln der Kirche durch jeden Einzelnen, der und die der Kirche einen Dienst erweist, tut die Institution gut daran, jedem Anderen zu sagen: Sieh dorthin – das ist ein guter Ort, das ist gut angelegte Zeit. Meine Kirche ist die, in der die Institution dorthin zeigt, wo Du Verkündigung des Evangeliums finden kannst: verlässlich, angemessen, zuversichtlich. Das ist und wäre ein wahrhafter Grund zum Jubilieren.
Fotocredit: Friederike Erichsen-Wendt
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