Die schwersten Wege
Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote, der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehn
hilft nicht. Es muss
gegangen sein.
Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen.
Hilde Domin
Das Gedicht „spricht von Verlust, Enttäuschung, Einsamkeit und Opfer, Lebensmomenten, die uns Angst machen. Momente, in denen wir uns ohnmächtig und allein gelassen fühlen, nicht wissen, wie es weitergeht, nur, dass wir weitergehen müssen. Momente, in denen alles schweigt, keiner uns Hilfe geben kann, nur wir selbst. Hilde Domin weist aber auch auf das hin, was uns retten kann: Wenn wir die Flamme in uns finden, die oft sehr klein und verletzlich ist, aber das Einzige, was uns den Weg, den wir gehen müssen, beleuchtet. Denn nur mit diesem unserem Licht können wir solche einsamen schweren Wege gehen und in der Hoffnung durchhalten, dass – wie ein Wunder, durch Gnade – wir uns selber finden und geborgen fühlen in der Geist-Gemeinschaft unserer Mitmenschen.
In vielen Gedichten von Hilde Domin sind Mut und Hoffnung das zentrale Thema. Es sind entängstigende Gedichte, stark und voller Vertrauen auf die eigene Kraft und Wahrheit. Sie sind aus Kummer und leidvollen Erfahrungen heraus geschrieben und doch ein Aufruf, sein Schicksal anzunehmen, auch wenn es voller Einsamkeit, Schmerz und Angst ist, und zu versuchen, selbst etwas daraus zu machen. Bedeutend ist die Haltung gegenüber dem, was man nicht ändern kann.
Trotz schwerer Schicksalserfahrungen hat Hilde Domin den Glauben an die Menschheit, die Hoffnung auf Gnade und die eigene Stärke nicht verloren. Die Gedichte haben einen starken, oft kämpferischen Unterton und weisen uns darauf hin, dass die Kraft, durch die wir etwas aus uns machen können, in der gesteigerten Aufmerksamkeit liegt, durch die wir zu tiefen Erfahrungen an uns selber und der Welt kommen können, dass uns aus der Welt Sinn und Hilfe entgegenkommen, die Anlage zum Mitfühlen und Helfen in uns liegt.“